Urteile nicht über ein Leben,
das Du nicht selbst gelebt hast.
„Pracht und Elend – Bilder der Prostitution (1850–1910)“. So der Titel einer Ausstellung, die Tim Oehler 2015 im Pariser Musée d'Orsay besuchte. Das Publikum war sehr angetan, wie Toulouse-Lautrec und Manet, van Gogh und Degas (allesamt männliche Künstler) das Thema „käuflicher Sex“ auf ihre Bilder gebracht hatten. Mehr oder weniger zufällig landete Oehler auf dem Rückweg vom Museum auf einem der Straßenstriche in Paris. Die gleichen Figuren, Szenen, Gesten... Aber die Blicke des Publikums waren jetzt andere. Statt ergriffen „Ah“ und „Oh“ zu raunen, wurden die Nasen gerümpft und Köpfe geschüttelt. Da gärte etwas in dem Hamburger Fotografen ... und so entstanden seine Bilder der Prostitution.
„Sex-Workers – Das ganz normale Leben“, so heißt der 288 Seiten starke Bildband, in dem Tim Oehler 30 Sexarbeiter:innen porträtiert. 30 Menschen, die als Escort oder Domina/Dominus, als Tantra-Masseusen oder -Masseure, als Fetisch-Ärztin, als Stripperinnen oder Bondage-Meister tätig sind. Sie arbeiten im Studio oder im Hotelzimmer, im Strip-Club oder im Bordell, aber allesamt müssen sie jederzeit den sogenannten Hurenpass bei sich tragen.
„Urteile nicht über ein Leben, dass Du nicht selbst gelebt hast.“ Das steht in großen farbigen Lettern auf einer der Einleitungsseiten und dieses Grund-motiv gibt auch die Richtung vor: Tim Oehler zeigt die Protagonist-en:innen in ehrlichen, niemals voyeuristischen Aufnahmen, und gibt damit der tabuisierten Sexarbeit ein Gesicht. Respektvoll und sehr offen. Auf vielen der farbigen Fotos entsteht eine nahezu intime Nähe, die erahnen lässt, was sich Kunden und Kundinnen von ihrem Besuch bei ihnen erhoffen, nämlich die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse, die nicht immer zwingend im penetrativen Akt enden müssen. Es geht um Zuwendung und Wertschätzung, Berührung und Begegnung, Fantasien und Fetische – um eine wichtige Care-Arbeit, die in ihrer Bedeutung immer noch nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.
Jede/r Akteur:in wird in einer längeren Strecke in ihrem/seinem typischen Arbeitsumfeld gezeigt. Das ästhetisch gesetzte Kunstlicht referiert auf das Rotlichtmilieu und schafft den Rahmen für beeindruckende Porträts und Perspektiven. Darüber hinaus haben die Sex-Arbeiter:innen aber auch Einblicke in ihr Privatleben gewährt. Tageslicht-Szenen drinnen oder draußen, die sich wenig vom Feierabend des Durchschnittsbürgers unterscheiden: Da wird gekocht, genäht und eingekauft, ein Kinderfahrrad repariert oder eine Runde mit den Rollerblades gedreht. Viele Haustiere sind zu sehen und viele gemütliche Sofas. Das ganz normale Leben eben.
In sehr persönlichen Texten schildern die Teilnehmer:innen des Projektes ihre Sicht auf die Sexarbeit und ihr jeweiliges Selbstverständnis in dieser diversen Branche. Sie möchten mit ihren Motivationen und Haltungen gesehen und gehört werden und wünschen sich, dass ihre Perspektive dazu beiträgt, den stigmatisierenden Umgang mit der Sexarbeit zu überwinden. Miteinander reden, nicht übereinander – das ist wohl der Weg zu mehr Wertschätzung.
In seinem Vorwort schreibt Tim Oehler ...“nur wenn wir unsere Sehgewohnheiten und Denkmuster durchbrechen, sind wir tatsächlich aufmerksam...“. Diesen aufmerksamen Blick auf das Thema Sexarbeit hat sich das Buch zur Aufgabe gemacht. Wir dürfen sehen, lesen, erkennen...